Kinder der Lüge

Geschichtsklitterung in der "Welt"

Ein Gast-Beitrag von Valery Derkacz (Валерий Деркач), Vorsitzender der Internationalen Öffentlichen Vereinigung Rus Edinaya (Русь единая).

Im Mai 2020 feierten viele Länder der Welt den 75. Jahrestag des Sieges der Länder der Anti-Hitler-Koalition über Nazi-Deutschland. Die Zeitung „Die Welt“ beschuldigte durch den Journalisten Sven Kellerhoff den Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, die historische Wahrheit zu verfälschen und die Geschichte jener Zeit neu zu schreiben. Selbstverständlich fügt er seiner Interpretation gleichzeitig die düstere Gestalt Stalins hinzu.

Nun, wenn das Narrativ auf Stalin zurückführt, sollte auch auf das Zitat von Goebbels, dem Propagandaminister in der NS-Zeit, eingegangen werden: „Je ungeheuerlicher die Lüge, desto eher wird sie geglaubt“. In Anerkennung der Rolle der sowjetischen Armee bei der Befreiung der Konzentrationslager in Polen geht der Autor zu 5 Anklagepunkten über. Diese wollen wir nun näher betrachten.

1. Die Opfer

Seit vielen Jahren wird die Zahl der Opfer von Sowjetbürgern während des Zweiten Weltkriegs von hohen Vertretern des modernen Russlands immer und überall geäußert: „27 Millionen“. Und es ist in diesem Fall nicht ganz menschlich und fair, einen Unterschied zwischen 20 und 27 Millionen zu machen, zumindest im Verhältnis zu den 7 Millionen, die der Autor des Artikels „nicht berücksichtigt“ hat. Jedes Leben eines Kleinkindes, eines jungen Menschen oder eines alten Menschen ist ein Geschenk von unschätzbarem Wert, ein Geschenk Gottes. Und deshalb ist es umso beschämender, diejenigen, die in verschiedenen Ländern an der „braunen Pest“ gestorben sind, in Prozenten zu vergleichen, wie das Lebendgewicht von Rindern bei der Fleischverarbeitung. Wenn es keine Journalismus-Ethik gibt, muss es eine menschliche Ethik geben! Und sofort werden die Leser wissen, dass der finstere Stalin seinem Volk bewusst Hungersnöte bereitet hat. Dies bedeutet ein ziemlich ungewöhnliches Verhalten für einen „Führer der vielen Völker der Sowjetunion“.

Denn seine eigene Bevölkerung bewusst reduzieren zu wollen, kann nicht durch irgendeine Logik erklärt werden. Dabei wird das enorme Tempo bei der Industrialisierung des Landes nicht einmal berücksichtigt. Das Land brauchte Fabriken und Fabriken brauchten Arbeiter. Und die Arbeiter mussten versorgt werden. Sogar George Orwell, der weltberühmte Schriftsteller der die Tyrannei in vielen Formen beschrieben hatte, schrieb offen, dass er Stalin nicht die Schuld geben würde, denn „möglicherweise hatte er keine andere Wahl“. Ja, es gab Hungersnöte, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland. Aber ohne Industrialisierung gäbe es keinen 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland. Wenn man so will, ist es auch möglich in der Weltwirtschaftskrise der späten 20er- und der frühen 30er-Jahre in Europa einen bestimmten „schuldigen Schurken“ zu finden.

2. Der große Terror

Hier geht Sven Kellerhoff mehr oder weniger auf die innenpolitische Situation in der Sowjetunion jener Jahre ein. Als ob es etwas mit dem Siegeszug der Soldaten der Roten Armee über das faschistische Deutschland zu tun hätte. Zunächst ist es notwendig, die Geschichte dieses Landes und in diesem Zeitabschnitts zu studieren, bevor man auf sie herabschaut. Bis Ende der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts gab es in der Sowjetunion tatsächlich einen Kampf zwischen der Regierungslinie Stalins und den internationalen Plänen der Trotzkisten. Selbst Historikern und Archivexperten fällt es nicht leicht, eine eindeutige Antwort über die Schuld der geopferten militärischen Ober- und Mittelkommandos zu geben. Es ist jedoch bekannt, dass beispielsweise gegen Hitler eine Verschwörung von Generälen bestand, nach der viele herausragende militärische Befehlshaber ihr Leben verloren. Stalin hat so etwas nicht zugelassen, obwohl es keinen Zweifel daran gibt, dass Unschuldige gelitten haben.

Die Analyse der Gründe für das Versagen der sowjetischen Armee im ersten Jahr des Großen Vaterländischen Krieges ist in diesem Artikel fehlplatziert. Sie liegen tiefer und sind systemischer Natur. Aber die Tatsache, dass „die ‚braune Pest‘ des nationalsozialistischen Deutschland erst durch Stalins Unterstützung in der Lage gewesen ist, halb Europa zu erobern“, ist eine offensichtliche Lüge, die bewusst in die Köpfe der Leser in Deutschland und Europa eingeführt werden soll.

  • 1934 zog sich Deutschland aus dem Völkerbund (einem Prototypen der zukünftigen UNO) zurück, um weniger Rechenschaft für sein Handeln vor anderen Nationen ablegen zu müssen. Die Sowjetunion hingegen schloss sich dieser Organisation an, um künftige Aggressionen von Staaten, die mit den Ergebnissen von Versailles unzufrieden sind, abzuwenden.
  • Am 26. Januar 1934 wurde das deutsch-polnische Abkommen über die friedliche Beilegung von Streitigkeiten und die Erklärung über Freundschaft und Nichtangriff unterzeichnet. Schon damals gab es Pläne über ein gemeinsames Vorgehen in der Ukraine.
  • Im Mai 1935 unterzeichnete die UdSSR mit der Tschechoslowakei den Vertrag über eine gegenseitige Hilfeleistung im Falle eines Angriffs durch einen Aggressorstaat. Bereits im Januar 1934 wurde auf dem 17. Kongress der kommunistischen Partei der Bolschewiki (Vorläufer der KPdSU) festgestellt, dass „es zwei Brückenköpfe für einen Angriff auf die UdSSR gibt: Nazi-Deutschland und das kaiserliche Japan“. Stalin hat klar verstanden, dass der Zusammenstoß unvermeidlich ist. Folglich hat er versucht, ihn so weit wie möglich hinauszuzögern.
  • 1937 wurde schließlich die Achse Berlin-Rom-Tokio gebildet, deren Endziel der Angriff auf das kommunistische Russland war.
  • Am 11. März 1938 überfielen deutsche Truppen Österreich und nahmen es in das Dritte Reich auf. Wie würden nun der Völkerbund, Frankreich oder England antworten? Es erfolgte keinerlei Reaktion. Am 19. September desselben Jahres übergaben die Botschafter Englands und Frankreichs im Namen ihrer Regierungen, der Regierung der Tschechoslowakei eine gemeinsame Erklärung über die Notwendigkeit, Deutschland das Sudetengebiet zu überlassen, um einen „europäischen Krieg“ zu vermeiden. Gleichzeitig weigerte sich Paris, seinen früher unterzeichneten Vertrag über „gegenseitige Hilfeleistung im Falle eines Angriffs durch einen Aggressorstaat“ zu erfüllen. Die Sowjetunion blieb jedoch ihren Verpflichtungen und dem Wortlaut des Vertrags treu und bot ihre Hilfe an. Am 21. September stellte Polen der Tschechoslowakei ein Ultimatum über die Rückkehr „ihrer“ Region Tesha. Stalin hat die Polen daraufhin gewarnt, dass er im Falle eines Angriffs auf die Tschechoslowakei mit Polen den Nichtangriffsvertrag von 1932 brechen würde.
  • Am 29. September vereinbarten die Regierungen Deutschlands, Italiens, Frankreichs und Englands in München in der sog. „Münchner Verschwörung“ die Zerschlagung der Tschechoslowakei.

Die Regierung der Tschechoslowakei hat die Hilfe der UdSSR abgelehnt. So ergaben sich die 45 Divisionen des Landes den 7 deutschen Divisionen. Die Hoffnung auf Gnade des Siegers war das einzige, was für die Tschechoslowakei übrig blieb. Am 30. September stellte Polen der Tschechoslowakei ein noch unfeineres Ultimatum.

Mit der Behauptung, der Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939 gab Hitler bei der Einnahme Europas freie Hand, hätte sich der Autor die Chronologie der Ereignisse genauer zuwenden sollen. Im September 1938 wurde der deutsch-britische Nichtangriffspakt unterzeichnet, und im Dezember 1938 wurde der gleiche Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich unterzeichnet. Dies erlaubte der Wehrmacht am 15. März 1939 den Einmarsch in Prag.

Drei Monate später, im Juli, fanden in Moskau auf Initiative der UdSSR Verhandlungen zwischen England, Frankreich und der UdSSR über die Schaffung eines Systems gegenseitiger Sicherheit in Europa zur Abschreckung eines möglichen Aggressorstaates statt. Von Seiten der Sowjetunion bot Marschall K. Woroschilow, Volkskommissar für Verteidigung der UdSSR, an, ein mögliches künftiges Bündnis mit 136 Divisionen zu unterstützen; Frankreich dagegen würde diesem möglichen Bündnis nur 16 und England sogar nur 10 Divisionen zu Verfügung stellen. Gründe für eine solch geringe Beteiligung wurden von beiden Seiten nicht genannt! Für Stalin wurde alles klar. Unter Berücksichtigung der aus Deutschland erhaltenen geheimen Informationen über den Inhalt des Treffens zwischen Ministerpräsident Chamberlain und Hitler, traf Stalin eine erzwungene Entscheidung, in naher Zukunft den berüchtigten Pakt zu schließen. Wer gab auf dieser Basis nun Hitler freie Hand und seine Billigung für einen Europäischen Krieg? Wer lässt sich als „Brandstifter“ nach dem Sven Kellerhoff sucht, ausmachen?

3. Stalins Imperialismus

Ausgehend von dem, was gesagt wurde, sollte klar sein, dass die Eroberung territorialer Gebiete der umliegenden Nachbarn zur damaligen Zeit eine nicht ungewöhnliche Methode darstellte. So wurden z.B. Finnland riesige territoriale Zugeständnisse angeboten, die jedoch nicht akzeptiert worden sind! Über die langjährigen Beziehungen zwischen der UdSSR und Polen könnte eine sehr lange Diskussion geführt werden. Frankreich und England favorisierten an vielen Stellen ebenfalls die deutsche Außenpolitik der „Erweiterung des Lebensraums des deutschen Volkes“. Warum durfte die UdSSR zur damaligen Zeit nicht auch diesen Weg gehen?

Sicherlich ist Sven Kellerhoff auch mit den Fakten des britischen Imperialismus während des Zweiten Weltkriegs vertraut. So verfasste Winston Churchill bereits im Oktober 1942, den Ausgang des Krieges vorwegnehmend, ein geheimes Memorandum „Über das vereinigte Europa“, das die europäischen Länder auffordert, den Krieg mit Deutschland zu beenden und einen 12 Staatenverbund zu bilden; die sogenannten „Vereinigten Staaten von Europa“, um gegen die „bolschewistische Barbarei, die nach Europa eilt“ zu kämpfen. Zu deren Mitgliedern würde natürlich auch Deutschland gehören. An der Spitze des „Europarates“ sollte eine „Regionalregierung“ stehen, sowie internationale Truppen, ein Gericht und eine europäische Polizei. Der Spitze dieses Staatenverbundes sollte der britische Löwe vorstehen. Dank Roosevelt konnte dies nicht realisiert werden.

4. Katyn und andere Verbrechen

Es gab viele Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, und das moderne Russland als Nachfolger der UdSSR, sowie die Ukraine und Weißrussland – jetzt unabhängige Staaten – bilden da keine Ausnahme.

5. Der Antisemitismus in Polen

Hier stimme ich mit dem Autor überein, dass es diesen gegeben hat. Die kleinen, von Sven Kellerhoff vorgeschlagenen Zahlen jedoch, offenbaren allerdings nicht die jahrhundertealten Probleme der jüdischen Bevölkerung in Polen.