Gebet

Ein Gastbeitrag von Julia Szarvasy

Lieber Gott,

ich weiß nicht, ob es dich gibt… aber wenn es dich gibt, muss ich dir unbedingt etwas erzählen:

Wahrscheinlich hast du lange nicht mehr nach der Erde geschaut, wo wir Menschen leben. Weißt du noch, wer die Menschen sind? Wir Menschen behaupten von uns selbst, wir seien dein Meisterwerk. Man sagt, du erschufst uns nach deinem Ebenbild, man sagt, wir seien die Krone deiner Schöpfung.

Ich möchte keine Petze sein, lieber Gott, aber ich muss dir einfach berichten, wie es deinem blauen Planeten unter dieser „Krone der Schöpfung“ ergeht…

Lieber Gott, bei manchen Menschen ist dein Name JHWH (Unaussprechlich, oder? Darum sagt man auch „Jahwe“.), mancherorts heißt du „Ngai“, bei anderen bist du der „dreieinige Gott“ (denn dort verkörperst du Vater, Sohn und einen heiligen Geist; ich weiß, das klingt abgefahren…), du heißt „Ahura Mazda“ (der weise Herr) und wieder andere gaben dir den Namen „Allah“. Einige Menschen (die vielleicht am meisten von dir verstanden haben) hießen dich einst Herrlichkeit: „Baha“ und sogar die Menschen, die an viele Götter glauben, wissen, dass du der eine Weltenbauer, der Schöpfer von allem bist; sie nenne dich „Brahma“.

Leider glauben die verschiedenen Menschengruppen, sie hätten ein Exklusivrecht auf dich. Die verschiedenen Völker der Erde ersannen Mythen und Sagen um dich. Sie erklärten ihre heiligen Schriften zu deinem Wort. Jeder will Recht haben mit seiner Gottesdeutung und mit der Auslegung deiner Gebote. Ach lieber Gott, hast du Augen zum Weinen? Du würdest weinen, wenn du die Berge von Toten sehen würdest, die durch den Kampf in deinem Namen die Erde rot gefärbt haben. Man sagt, du hättest den Menschen nach deinem Ebenbild geschaffen. Darum: Hast du Augen zum Weinen, lieber Gott?

Menschen haben Regeln und Gesetze erdacht, Anweisungen zum Leben und dafür, wie man dir am besten huldigen soll. Wir nennen das Religion. Das vermeintliche Privileg, mit dir in Verbindung zu treten, besitzen Menschen im Priestergewand. Streng wachen sie über die eigenen religiösen Sitten, die du ihnen nie auferlegt hast…

Es gibt in deinem Universum mehr als eine Billion Galaxien. Und etwa einhundert Milliarden mal so viele Sterne. Als du unseren Stern, die Sonne, erschufst, wusstest du vielleicht noch nicht, dass es einst einen kleinen blauen Planeten am Rand einer kleinen Galaxie geben würde, einen kleinen Planeten, der unter dieser Sonne zum Paradies erblühen würde, ein Paradies in dem einst wir Menschen wandeln sollten.

Dein göttlicher Wille diktierte der Natur einen Garten Eden zu erbauen. Ihr beide, göttlicher Vater und Mutter Natur habt alles wohl eingerichtet. Das Wunder des Lebens begann sich zu regen und es wurde nicht müde, sich von immer Neuem selbst zu übertreffen.

Du gabst uns Menschen Geistesleistungen, die uns befähigten, tief ins Weltall hinauszuspähen. Wir suchen nach anderen Planeten, die unserer Erde gleichen mögen. Doch bisher lauschten wir vergeblich in die Stille des Kosmos. Es scheint einsam um uns zu sein.

Lieber Gott, du gabst uns Geistesleistungen zum Erbauen von Teleskopen und Raumstationen. Du gabst uns den Drang zu entdecken und zu erobern. Vielleicht gabst du uns davon zu viel…

Ach Gott, du hast doch Augen zum Weinen. Ich möchte dir erzählen, was aus deiner Schöpfung geworden ist, auf das du weinen mögest.

Wir Menschen, unsere Wissenschaftler gaben uns den Namen Homo sapiens sapiens, betraten vor etwa 300.000 Jahren die Bühne der Welt, auch das haben unsere Wissenschaftler errechnet. Die Erde aber ist schon viereinhalb Milliarden Jahre alt. Wäre die Erdzeit ein Lineal von 45 Zentimetern, betrüge die Ära des Menschen bis zum heutigen Tage gerade einmal 0,3 Milimeter. Nicht mehr als ein göttlicher Pups, könnte man meinen. Aber dennoch ein Pups, der dem Garten Eden tödliche Wunden zufügt. Lieber Gott, verzeih‘ mir die drastischen Worte, deine Menschen sind mitleidlose Massenmörder geworden. In nicht einmal 60 Jahren ist der Artenreichtum des blauen Planet um die Hälfte geschrumpft. Jeden Tag verschwinden Tier- und Pflanzenarten für immer, und jeden Tag erhöht das Töten und Sterben seine Geschwindigkeit. Wir Menschen selbst nennen es das androgene Massensterben.

Unsere Sonne wird noch weitere viereinhalb Milliarden Jahre Lebensspender der Erde sein. Doch wir Menschen tun unser Menschenmögliches, die Erde lange vor ihrer Zeit sterben zu lassen. Das geht gar nicht, denkst du? Lieber Gott, schau auf deine Ozeane… sie sterben vor unser aller Augen.

Schau auf deine kleinen, schillernden, tänzelnden Insekten, sie machen die Hälfte aller Arten auf Erden aus. Sie ernähren ungezählte andere Arten. In nur drei Jahrzehnten rotteten wir dreiviertel von ihnen aus.

Lieber Gott, wir Menschen haben an den Küsten des wunderschönen Europas 114.000 Tonnen radioaktiven Müll im Meer versenkt. Die billigen Fässer rosten und geben ihre giftige Fracht frei, sie verseucht alles, womit sie in Berührung kommt… Dir stockt der Atem? Aber das ist noch lange nicht alles.

Deine Regenwälder, der Stolz deiner Fantasie und die Freude von Mutter Natur… wir brennen ihn ab, reißen seine Bäume aus, vertreiben und töten seine unschuldigen Geschöpfe, die dort solange vor uns in schönster Pracht und Harmonie gelebt haben… 35 Fußballfelder (bitte recherchiere mal, wie groß das ist!) verschwinden aller zwei Minuten vom Antlitz der Erde.

Mancherorts haben wir die Meere fast leer gefischt, an anderer Stelle treiben Müllteppiche so groß wie halbe Kontinente… Nur noch ein Zehntel deiner Tiere, lieber Gott, lebt in Freiheit. Den Rest haben wir eingesperrt in fauligen, beengten, dunklen, traurigen Gefängnissen, die wir Ställe nennen. Den Kühen nehmen wir die Neugeborenen weg, um an ihrer Statt die Milch zu trinken. Die Kälbchen werden geschlachtet, während ihre Mütter noch Wochen nach ihren Kindern weinen. Uns ist das egal… Wir wissen, dass du den Tieren Gefühl und Schmerz gegeben hast. Uns ist das egal…

Lieber Gott, hast du Augen zum Weinen? Jammert dich nicht das Schicksal deiner Schöpfung? Ich weine, während ich dir berichte.

Doch Gott, nicht auf die Tiere und Pflanzen beschränkt sich die menschliche Zerstörungs- und Ausbeutungswut… Wusstest du, lieber Gott, dass jeden Tag unter deiner Sonne 24.000 Menschenkinder an Hunger sterben? Wusstest du, dass der Mensch seine Kreativität nutzt, um Waffen zu entwickeln, die in Sekunden Millionen Artgenossen töten können, anstatt Ideen zu verfolgen, wie kein Kind mehr an Hunger sterben muss? Anstatt die Intelligenz für eine gerechte Welt zu gebrauchen…

Ja Gott, so ist der Mensch… Sicher wolltest du das nie. Ich glaube in meinem tiefsten Inneren, dass du gütig bist. Und sicher siehst du ein, dass dein Mensch ein Mängelwesen ist, ein Wunderwerk deiner Schöpfung zwar, dass Symphonien komponiert, Gedichte schreibt, Atome spaltet und Kuchen backt. Aber ein Wunderwerk mit einem gehörigen Dachschaden. Sicher ist es zu spät für eine Rückholaktion… aber ich flehe dich an, lieber Gott, wenn es dich gibt, mach, dass wir erkennen mögen, dass wir Menschen Brüder und Schwestern sind. Mach, dass die Menschen aufhören, in deinem Namen ihre wehrlosen Kinder an den Genitalien zu verstümmeln und lehre ihnen stattdessen den Kindern die Ehrfurcht und Liebe gegenüber dem Leben zu erklären. Denn das Leben ist heilig. Wenigstens in diesem Punkt sind sich alle Religionen dieser Welt einig.

Wenn du Augen hast zum Schauen, lieber Gott und wenn du kein rachsüchtiger, mitleidloser Gott bist, wenn du mit väterlicher Milde auf deine Schöpfung schaust, dann bitte hilf uns, denn wir wissen nicht, was wir tun… Nie wird es genug Tränen geben, den Verlust deiner Schöpfung zu beweinen.

Julia Szarvasy, 09.07.2018

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