In alltäglichen Gesprächen stellen wir manchmal Fragen wie: „Wie viel verdienst du eigentlich in deinem Job?“ Wenn uns beispielsweise interessiert, wie viel Geld ein Freund oder ein Kollege für seine Arbeit bekommt. Was uns bei dieser routiniert verwendeten Frage aber nicht weiter aufstößt, ist das unscheinbare Wort „verdienen“.
Hier müssen wir uns die Frage stellen, was für eine Bedeutung bei dem Verb „verdienen“ eigentlich mitschwingt. Worte wie „verdienen“ oder „Verdienst“ verwenden wir nämlich häufig, wenn wir von einer gerechten oder angemessenen Vergütung bzw. Reaktion oder Einschätzung für eine Leistung, Handlung etc. sprechen. So kennen wir schadenfreudige Aussprüche wie: „Dass er derart abgestürzt ist, hat er sich aber wirklich verdient!“ Typische Sätze, die im gewohnten Sprachgebrauch ihren Platz finden, sind auch: „Er erhält eine Auszeichnung für seine außerordentlichen Verdienste.“ Oder „Sie verdient einen Besseren als ihn.“
Wenn nun ein einfacher Arbeiter vor seinen Freunden und Bekannten bekundet, dass er als Angestellter bei einem transnationalen Megakonzern arbeitet und etwa 1.300 Euro netto „verdient“, dann transportiert er auf tiefensprachlicher Ebene noch die unbewusste Wirkung des Wortes „verdienen“ mit. Unser Arbeiter sagt also ungewollt, dass dieser ausbeuterische Betrag seiner Arbeitsleistung entspricht.
Normalerweise wäre der Ausspruch: „Ich verdiene so und so viel Geld bei X“ nicht weiter beachtenswert, wenn wir ein gerechtes Wirtschafts- und Sozialsystem hätten, in dem jeder eine gerechte Vergütung für seine Arbeit erhält. Doch leider sieht die Realität anders aus. Die Geldbeträge, die der gewöhnliche Arbeiter hierzulande für seine Leistungen erhält, sind im Verhältnis zu seiner wirklich geleisteten Produktivität ein blanker Hohn.
Nun ist es egal, ob das Wort „verdienen“ aus obigem Kontext den ausgebeuteten Arbeitern bewusst in den Sprachgebrauch eingepflanzt wurde, oder ob es sich um eine zufällige sprachliche Entwicklung handelt. Fest steht aber, dass wir unseren Ausbeutern keinesfalls noch den Gefallen tun sollten, uns selbst mit unseren eigenen Sprachgewohnheiten zu entwürdigen. Sprache prägt unsere Wahrnehmung auf die Welt und beeinflusst somit auch unser Denken und Handeln.
Die bewusste Verwendung der Sprache ist ein erster wichtiger Schritt, um die Wahrnehmungs- und Denkmuster des bestehenden Systems zu erkennen.
Beim nächsten Gespräch sollte es also nicht heißen: „Ich verdiene bei meinem neuen Job 1.300 Euro monatlich.“ Sondern: „Ich bekomme 1.300 Euro für meine Arbeit bei X. Aber in Wirklichkeit verdiene ich das Doppelte.“