Mut zur eigenen Geschichte: Wie wir vom Erinnern und Gedenken in Weißrussland lernen können

Von Asle Güleryüz

Impressionen unserer Reise vom 19. – 23. Juni 2023 zurück in ein trauriges Kapitel in der Geschichte der weißrussischen Stadt Brest.

Die Stadt Brest liegt unmittelbar hinter dem polnisch-weißrussischen Grenzübergang Terespol und ist mit knapp 350.000 Einwohnern die sechst größte Stadt in Weißrussland.

Die Flüsse Bug und Muchawitz ziehen sich durch die Stadt. Nicht nur aufgrund ihrer geopolitischen Rolle, sondern vielmehr wegen ihrer Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt mit einem einzigartigen Eisenbahnübergang nach Polen wird die im Jahre 1019 gegründete Stadt als „Tor zum Westen“ betrachtet. Um dies angemessen zu würdigen hat Brest nach dem Zweiten Weltkrieg einen imposanten Bahnhof erhalten.

Seit ungefähr zehn Jahren erinnert die Stadt Brest an ein schweres Datum aus der Vergangenheit. In der Nacht auf den 22. Juni 1941 überfielen deutsche Truppen die Stadt Brest mit ihrer bedeutenden Festung im Morgengrauen.

Heute begeht die ganze Stadt diesen Gedenktag in Andacht, Würde und mit kulturellen Veranstaltungen. Das Gedenken zu Ehren aller Menschen, die in dieser Nacht und dem danach andauernden Kampf ihr Leben lassen mussten, ist in der Stadt überall zu sehen und zu spüren.

Die Stadt ist feierlich geschmückt, in der Fußgängerzone flanieren Menschen in Kleidern, die an die Kriegszeit erinnern. Auch Männer in Uniformen und Motorräder und Fahrzeuge aus jener Zeit des Krieges beherrschen das Straßenbild.

Ein kulturelles Rahmenprogramm ist in der Fußgängerzone und in Parkanlagen genauso Teil der Festlichkeiten, als auch der Höhepunkt, die „Rekonstruktion“ der furchtbaren Geschehnisse der Nacht auf den 22. Juni 1941 am Ort des grausamen Überfalls und zur gleichen Uhrzeit im Morgengrauen.

Anlässlich dieser Gedenkfestivitäten zum Großen Vaterländischen Krieg hatte unser stellvertretender Bundesvorsitzender, Oliver, in verschiedenen Gruppen dazu eingeladen, nach Brest zu reisen und gemeinsam mit der Bevölkerung zu gedenken, trauern und erinnern.

Er selbst bereist seit vier Jahren Weißrussland, insbesondere Brest. Erstaunt und betroffen hatte er bereits früh festgestellt, dass Deutsche kaum dieses dunkle Kapitel ihrer eigenen Geschichte kennen. Diesen Umstand möchte er ändern. Er möchte dieses Wissen verbreiten und in Erinnerung verwahren. Allerdings nicht als Last oder Schuld gemeint, sondern als Verbreitung von Wissen, um die Gräueltaten der Vergangenheit für die Zukunft zu verhindern. Die Vergangenheit darf sich nicht wiederholen.

Dienstag, 20. Juni 2023: Dremlevo

Angefangen hat die Reise in die Vergangenheit für unsere Gruppe mit einem Besuch der Gedenkstätte Dremlevo.  Eine halbe Stunde dauert die Fahrt von Brest und bietet uns einen kleinen Einblick in die etwas ländlichere Region um Brest und wir haben die Möglichkeit, uns emotional auf unseren schweren Weg vorzubereiten.

Das kleine Dorf Dremlevo ist am 11. September 1942 von Nazis im Rahmen der sogenannten ‚Operation Dreieck‘ vernichtet worden. Das Dorf wurde überfallen, 186 der knapp 200 Einwohner grausam in Scheunen getrieben und erbarmungslos niedergebrannt. Das Dorf existiert nicht mehr und wurde nie wiederbelebt.

Am 11. September wird jährlich an die Opfer von Dremlevo erinnert und gedacht. Um diese Tragödie zu erinnern und ihrer zu gedenken, hat unsere Gruppe ihren ersten Besuch dieser Gedenkstätte erstattet.

In unseren Blick fällt zunächst ein Hügel in einiger Entfernung. Dieser Grabhügel wurde 1967 an der Stelle errichtet, an der einst das Dorf war. Auf einer Gedenktafel davor kann man über das Drama lesen. Vor diesem Hügel ist eine beeindruckende Skulptur zu sehen. Drei Frauen aus schwarzem, massivem Material sitzen vor dem Hügel in Trauergebärden. Sie symbolisieren drei Generationen: In der Mitte sitzt die Großmutter, rechts die Mutter und links die Tochter. Sie stehen für die Frauen, die brutal hingerichtet worden sind. Riesige Trauerweiden und Tannen stehen links von dem Hügel. Eine stille Trauer ist zu spüren. Auf dem Weg zu dem Grabhügel und der Skulptur der Frauen sind zwölf Rechtecke aus Rasen fein säuberlich vom Kiesweg durch eine Rahmenbegrenzung abgetrennt. Sie stehen symbolisch für die Häuser des Dorfes, die abgebrannt wurden. Der Weg ist mit roten Kieselsteinen ausgelegt. Die Farbe rot soll die blutige Spur darstellen. Sechs Kinder konnten die Tragödie glücklicherweise überleben und darüber berichten. 26 Bewohner des Dorfes waren an jenem Schicksalstag nicht anwesend. Die gesamte Gedenkanlage ist sehr schlicht gehalten. Wir legen einen Kranz im Namen der Deutschen Mitte und rote Nelken an der Gedenkstätte nieder und gedenken der Opfer.

Damit solche Tragödien sich nicht wiederholen, darf die Geschichte bewahrt werden, ihrer erinnert werden und nicht vergessen werden. Die Weißrussen halten diese Erinnerung in Ehren. Es ist ein großes Symbol von immenser Bedeutung, dass deutsche Menschen nach Weißrussland reisen, sich erinnern, sich heilen und gemeinsam ihre Freundschaft feiern. Davon braucht es noch mehr. Es braucht noch mehr mutige Menschen, die sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen und sie heilen. Das können die Deutschen von den Weißrussen lernen. Ohne Verbitterung, mit Vergebung einer friedvollen Zukunft entgegenblicken.
Anschließend werden vom ortsansässigen Historiker Anatoly Benzyaruk und von Anatoly Scholtanjuk, dem Vorsitzenden des Bezirksabgeordnetenrates begrüßt. Der Bürgermeister betont, dass er sich über den Besuch aus Deutschland sehr freut. Anatoly Benzyaruk erzählt uns ruhig und mit tragender Stimme von der Tragödie von Dremlevo.

Näheres über die traurige Geschichte könnt ihr in unserem Video sehen und hören, welches bald folgen wird.