Heute vor 75 Jahren wurde Sophie Scholl nach Verhören durch die Gestapo hingerichtet.
Was war ihr Verbrechen? Was war so gefährlich an einer Studentin, dass die faschistischen Machthaber so verunsichert waren, dass sie nur vier Tage nach der Tat deren Hinrichtung anordneten? Es lohnt sich dieser Frage nachzugehen, denn sie führt in eine unerwartete Richtung.
Sophie Scholl entsprach zunächst keinesfalls dem Bild der Widerstandskämpferin, das in Geschichtsbüchern von ihr gezeichnet wird. Als die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernahmen, war sie noch keine 12 Jahre alt und durchlief dementsprechend alle Instanzen, die der faschistische Staat vorgesehen hatte, um sich der gewünschten Denkweise und Weltsicht seiner Jugend zu versichern.
Aber im Gegensatz zu der überwältigende Mehrheit ihrer Altersgenossen bewahrte sie sich ihr eigenständiges Denken und ihren kritischen Geist. Weder die Inszenierung des Alltags, noch die einseitige Berichterstattung in den Medien dieser Tage, noch das Vertrauen in die Richtigkeit der Mehrheitsmeinung vermochten sie einzuschüchtern, ihren Blick zu trüben und sie gefügig zu machen. Im Gegenteil.
Im Frühjahr 1941, als die Nationalsozialisten ihre größten Triumphe feierten und das Sophie umgebende System tatsächlich für die kommenden 1000 Jahre zu zementiert werden schien, wurden die Brüche zwischen Worten und Taten der Machthaber für sie immer klarer. Während man sich um sie herum eifrig bemühte, sich innerhalb der gegebenen Umstände einzurichten und dafür bereitwillig Zweifel und Kritik ausblendete, weil es einem ja schließlich so gut ging, wie noch nie, beschloss Sophie sich lieber auf ihr eigenes Verständnis von Geschichte, Moral und Ethik zu verlassen, auch wenn dieses wenig geeignet war, um in ihrer Welt voran zu kommen.
Eine Situation, in der die Masse ihres Volkes bereit war, in Jahrhunderten erarbeitete und tradierte Werte kurzfristigen Erfolgen unterzuordnen, sich aus Opportunismus mit Sachverhalten arrangierte, die nicht den eigenen Überzeugungen entsprachen oder verzweifelt versuchte an dem Glauben festzuhalten, dass man selbst doch keiner Versuchung erlegen war, indem man tatsächlich inbrünstig für den „Endsieg“ arbeitete, der die eigenen Handlungen im Nachhinein legitimieren würde.
Ein solcher Zustand war der leidenschaftlichen Patriotin Sophie Scholl zutiefst unerträglich.
Für sie stand ein Abwenden von ihrem Land und ihrem Volk zu keinem Zeitpunkt zur Debatte.
Im festen Glauben, dass die Deutschen von selbst zur Vernunft kommen würden, wenn man ihnen nur zeigen konnte, welcher Teufel sie da ritt, suchte sie keinen Anschluss zu entgegengesetzten politischen Gruppierungen. Im kleinen Kreis vertrauter Menschen mit den gleichen Überzeugungen wurde Widerstand organisiert. Man wartete nicht darauf, dass jemand anders die Führung übernahm. Man suchte nicht nach der vermeintlichen Lichtgestalt, die alles regeln würde. Man überwand die kaum zu greifende Angst, die der Einzelne empfindet, wenn er sich gegen die Mehrheit stellt. Man verließ sich auf den inneren Kompass, der jedem von uns mitgegeben ist-
Dieser Kompass, unser Gewissen, funktioniert immer und überall völlig einwandfrei. Trotzdem neigen wir alle dazu uns in Situationen, in denen wir Orientierung am dringendsten brauchen, auf vermeintliche Autoritäten und Experten zu verlassen, oder lieber zumindest nicht aufzufallen, wenn die Masse in eine Richtung geht, von der wir eigentlich wissen, dass sie falsch ist.
Das ist keinesfalls typisch deutsch, sondern eben typisch menschlich.
Sich in jeder Situation den Blick auf diesen Kompass zu erlauben, gerade wenn starke Gefühle wie Angst, Euphorie oder Wut die Sicht trüben, gerade wenn Ablenkungen aller Art unsere Aufmerksamkeit fordern, gerade wenn Geschäftigkeit, Routine oder Hektik keine Zeit lassen, ist die Grundvoraussetzung ethischen Handelns.
Andere zu informieren, wenn man Unstimmigkeiten oder Abweichungen zwischen Bewegungsrichtung und der Kompassnadel feststellt, gerade wenn der Hintermann drängelt, gerade wenn alle einen faszinierten Tunnelblick nach vorne entwickeln, gerade wenn Müdigkeit und Frustration die Blicke des Umfelds apathisch auf den Boden gehen lassen, ist Solidarität und damit das verbindende Element jeder Gesellschaft.
Sich notfalls auch entschlossen von der Gruppe zu entfernen und eher der Kompassnadel als der Mehrheitsmeinung der Masse zu folgen, ist Zivilcourage.
Der stete Blick auf den Kompass und das beharrliche Befolgen seiner Anzeige macht Sophie Scholl zu einer deutschen Patriotin, die sicherlich auch von der Verachtung für das Regime angetrieben wurde, aber in noch höherem Maß von der Liebe zu ihrem Land, seinen Menschen und Werten.
Vor dem Hintergrund dunkler Zeiten steigern Funken ihre Leuchtkraft.
Die faschistischen Machthaber waren Meister der Propaganda und sich dieser Tatsache in vollem Umfang bewusst. Sie konnten nicht zulassen, dass der Funke, den Sophie und ihre Mitstreiter geschlagen hatten, überspringt. Keine Gerichtsverhandlung, in der die wortgewandte Studentin Gelegenheit bekommen konnte das Glimmen weiter anzufachen. Bloß keine Aufmerksamkeit durch die Medien. Die Idee konnte man totschweigen, die Urheberin töten, das Auflodern der Flammen in unmittelbarer Umgebung verhindern.
Zu löschen vermochte man den Funken indes nicht.
Die Geradlinigkeit und Aufrichtigkeit, der Willen und die Konsequenz, das Festhalten an Werten und Moral sind ein Vermächtnis, das die Zeit überdauert und auch nach 75 Jahren nicht an Strahlkraft verloren hat. Der Mut von Sophie Scholl und ihrer Mitstreiter trugen unsere Werte durch dunkelste Jahre und ermöglichten den Deutschen ein Anknüpfen daran.
In den Taten aller Widerstandskreise gegen den Nationalsozialismus liegt das Fundament, auf dem der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland überhaupt erst gegründet werden konnte.
Ihr Mut, ihre Hingabe und ihre Tapferkeit zum Widerstand für Deutschland bleiben unvergessen und verdienen gerade am heutigen Todestag größten Respekt und im hektischen Alltagsbetrieb einen Moment ganz bewusster Erinnerung, die unsere Aufmerksamkeit nach Innen wenden sollte, um dort der Frage nachzugehen: „Wann habe ich eigentlich zum letzten Mal auf diesen Kompass geschaut?“